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Amygdalin

Amygdalin-haltige Drogen in der Chinesischen Medizin

Amygdalin ist ein wesentlicher Inhaltsstoff der bitteren Mandeln. Auch in den chinesischen Arzneidrogen Armeniacae Semen amarum (ku xing ren, Aprikosenkerne), Persicae Semen (tao ren, Pfirsichkerne), Pruni Semen (yu li ren) und Mume Fructus (wu mei) ist der Stoff in absteigender Konzentration enthalten. Diese Drogen werden seit mindestens 1800 Jahren in der Chinesischen Medizin eingesetzt und sind bereits in der ersten chinesischen Pharmakopöe, dem shen nong ben cao jing (ca. 220 n. Chr.), enthalten. Armeniacae Semen ist eine wichtige Arznei zur Behandlung von Husten und Asthma, Persicae Semen ein wichtiges Mittel zur Behandlung von Blutstase. Zusätzlich befeuchten beide Drogen den Darm und sind damit günstig bei Obstipation einzusetzen. Xing ren gilt traditionell als leicht toxisch.

Amygdalin als solches ist relativ wenig toxisch. Toxisch wird es, wenn aus ihm durch enzymatischen Abbau Zyanwasserstoff (Blausäure, HCN) freigesetzt wird. Zyanwasserstoff blockiert die Zellatmung, so dass die Zellen keine ausreichende Energie bilden können und absterben. Dem menschlichen Gewebe fehlen die für die Zyanidfreisetzung notwendigen Enzyme, so dass intravenös zugeführtes Amygdalin erst in hohen Dosen gefährlich wird. Die Enzyme sind jedoch in den pflanzlichen Ausgangsmaterialien selbst und in geringerem Ausmaß in der Darmflora vorhanden. In zwei Schritten spalten diese Enzyme jeweils Glukose ab, wobei Mandelonitril entsteht, das durch einen weiteren Hydrolyseschritt in Zyanwasserstoff und Benzaldehyd zerfällt.

Amygdalin wird für einen wichtigen Inhaltsstoff der o.g. Drogen gehalten, eine Reihe pharmakologischer Wirkungen ist für diesen Stoff nachgewiesen [1, 2]. Das chinesische Arzneibuch fordert für Armeniacae Semen amarum einen Mindestgehalt von 3,0 Prozent bzw. 2,5 Prozent für die prozessierte Droge, für Persicae Semen 2,0 Prozent [3]. Damit die Toxizität möglichst gering bleibt, müssen die für den Abbau erforderlichen Enzyme eliminiert werden. Hitze zerstört Amygdalin nicht [4]. In kochendem Wasser wurde aus bitteren Mandeln nach 100 Minuten der maximale Amygdalingehalt extrahiert, danach fiel der Gehalt durch Bildung eines chemischen Epimers (Neoamygdalin) ab [5].

Hitze zerstört jedoch die Hydrolyse-Enzyme, die in den Drogen enthalten sind. Dadurch wird das Potenzial für die Bildung toxischen Cyanwasserstoffs deutlich reduziert. Gefährlich sind Aprikosen- oder Pfirsichkerne, die ohne vorheriges Erhitzen zerkleinert und dann in kurzem Zeitabstand eingenommen werden, so dass die Enzyme freigesetzt werden und ihre Wirkung entfalten können. Auch durch Zerkauen der Kerne werden die Enzyme freigesetzt. Lässt man die Enzyme lange Zeit einwirken, entweicht der entstehende Zyanwasserstoff in die Atmosphäre [5] und die Toxizität verringert sich. Auch durch längeres Lagern der unbehandelten Drogen schwindet der Amygdalingehalt, während durch Hitzebehandlung der Drogen und damit Zerstörung der Enzyme der Gehalt deutlich weniger abnimmt [6].

Mit der Toxizität von Amygdalin existiert viel Erfahrung, weil dieser Stoff unter dem Namen Laetrile zigtausendfach zur Behandlung von Krebs, vor allem in den USA, verwendet wurde. Obwohl er für diese Indikation offensichtlich unwirksam ist, lebte in den 1950’er bis 1980’er Jahren eine florierende Industrie davon. Auch heute noch wird er gelegentlich für diesen Zweck verwendet. Die Dosierung betrug meist zwischen 0,5 und 2,5g pro Tag [7], der Standard war 3mal 0,5g. Eine Reihe von Vergiftungserscheinungen, auch Todesfälle, sind in der Literatur beschrieben. In diesen Fällen lag die Dosis bei Erwachsenen jeweils bei 1,5g und mehr, bei Kindern reichten mitunter schon 0,5g [8-10]. In einem einzigen Fall ist bei Erwachsenen eine Toxizität bei 0,5g Amygdalin beschrieben [8], allerdings sind nähere Details zu dieser Fallmeldung nicht allgemein zugänglich und die Umstände nicht beurteilbar. In einer pharmakologischen Studie an 6 gesunden Menschen wurden unter einer Dosis von 3 mal 0,5g oral keine Nebenwirkungen beobachtet [11]. In einer klinischen Studie an 178 Patienten mit fortgeschrittener Krebserkrankung wurde eine Dosis von 3 mal 0,5g, in einer Minderzahl auch 4 mal 0,5g oral eingesetzt. Bei etwa 30 Prozent der Patienten traten Nebenwirkungen auf, die jedoch keine schweren Ausmaße annahmen [12].

Bei chronischem Gebrauch kann Amygdalin wahrscheinlich zu einer Neuropathie führen, die schon ab 0,5g Tagesdosis beschrieben wurde [13, 14]. Auch über eine Agranulozytose unter 5jähriger Einnahme von 1g Tagesdosis wurde berichtet [15].

Die höchsten Amygdalingehalte, die wir für chinesische Drogen finden konnten, liegen für Armeniacae Semen amarum bei 6,14 % [16], für Persicae Semen bei 3,68% [17]. Nimmt man die offiziellen Maximaldosierungen von jeweils 10g pro Tag [3] ein, so werden maximal 0,61 bzw. 0,37 g Amygdalin zugeführt. Bei der Dekoktherstellung wird das Amygdalin nicht vollständig extrahiert, nach ein- oder zweimaligen Kochen in Wasser über jeweils 60 Minuten liegen die Extraktionsraten bei 74 bzw. 55,7 % [18, 19]. In kochendem Wasser wird zeitabhängig auch ein Teil des Amygdalins in Neoamygdalin umgewandelt [20], das ein Epimer des Amygdalins ist, mit unterschiedlicher Wirkung. Bei der regelhaften Anwendung als Dekokt liegen die zugeführten Amygdalinmengen somit deutlich unter der Toxizitätsgrenze für eine akute Vergiftung.

Aprikosenkerne, die ohne Enzyminaktivierung eingenommen werden, können schon bei relativ geringer Amygdalinmenge fatale Folgen haben. Eine Buchautorin und Vermarkterin von Laetrile wurde selbst Opfer des von ihr propagierten Mittels, nachdem sie 25 Aprikosenkerne (entsprechend etwa 15g) zu Pulver zermahlen, geröstet und mit Honig vermischt eingenommen hatte. Sie landete in komatösen Zustand auf der Intensivstation [21]. Eine 42-jährige Brustkrebspatientin nahm zusätzlich zu einer täglichen Laetrile-Dosis von 1g zerstoßene Aprikosenkerne in Kapselform ein, die vermutlich die Hydrolyseenzyme enthielten, und starb daran [21]. Eine 41jährige Frau verzehrte ca. 30 Aprikosenkerne aus einer als „health food“ vertriebenen Packung und landete mit Koma und Hypothermie auf der Notfallstation [22].

Als Dekokt oder Granulat eingenommen und bei Einhaltung der vorgesehenen Dosierung ist keine Toxizität durch Amygdalin-haltige chinesische Arzneidrogen zu befürchten [23]. Wir haben in der Literatur keine Hinweise auf höhergradige Nebenwirkungen unter fachgerechter Anwendung der Chinesischen Arzneitherapie gefunden. Die Maximaldosis, insbesondere für Armeniacae Semen amarum, muss jedoch beachtet werden, für empfindliche Personen, wie Kinder und alte Menschen, ist sie entsprechend niedriger anzusetzen. Die Tagesdosis sollte auch nicht auf einmal eingenommen, sondern auf zwei oder mehr Einnahmen mit deutlichem zeitlichem Abstand dazwischen aufgeteilt werden. In der Schwangerschaft sind die Amygdalin-haltigen Arzneidrogen kontraindiziert, zumal Amygdalin (in Form von Laetrile), schwangeren Hamstern zugeführt, Missbildungen bei den Nachkommen erzeugte [24]. Eine Langzeit-Anwendung von Amygdalin-haltigen Drogen ist zu vermeiden.

Wie viele chinesische Quellen beschreiben, sollten die Drogen Armeniacae Semen amarum und Persicae Semen durch kurzes Kochen in Wasser (ca. 5 Minuten) oder andere Hitzebehandlungen prozessiert werden, so dass die Enzyme deaktiviert werden und die Lagerbeständigkeit verbessert wird [25, 26]. Diese so vorbehandelten Drogen sollten nicht zu kurz dekoktiert werden, um eventuell noch bestehende Restenzymaktivitäten zu zerstören und ausreichende Konzentrationen des durchaus erwünschten Amygdalins im Dekokt zu erzielen.

Quellen:

1. Tang W, Eisenbrand G. Handbook of Chinese Medicinal Plants. Chemistry, Pharmacology, Toxicology. Vol. 2. Weinheim: WILEY-VCH Verlag GmbH & Co., 2011

2. Yang C, Zhao J, Cheng Y et al. Bioactivity-guided fractionation identifies amygdalin as a potent neurotrophic agent from herbal medicine Semen Persicae extract. Biomed Res Int 2014;2014:306857

3. Chinese Pharmacopoeia Commission. Pharmacopoeia of the Peoples Republic of China (English version). Vol. I. Beijing, China: China Medical Science Press, 2010

4. Rahway NJ. The Merck index. An encyclopedia of chemicals, drugs, and biologicals. New York: Merck and Company, 1989

5. Bolarinwa IF, Orfila C and Morgan MR. Amygdalin content of seeds, kernels and food products commercially-available in the UK. Food Chem 2014;152:133-139

6. Hou RQ. [The principle of the processing of Semen Armeniacae amarum] (Chinese). Shenyang Yaoke Daxue Xuebao 1997;14:130-132

7. Baselt RCe. Amygdalin. Disposition of toxic drugs and chemicals in man. 9th ed. Seal Beach, California: Biomedical Publications, 2011:93-95

8. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Amygdalin - fehlende Wirksamkeit und schädliche Nebenwirkungen. Bulletin zur Arzneimittelsicherheit 2014;Sept:7-13. http://www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Arzneimittel/Pharmakovigilanz/Bulletin/2014/3-2014.pdf?__blob=publicationFile&v=2; date accessed 01/30/2015

9. Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Cyanid-Intoxikation nach oraler Amygdalin-Behandlung. Dt Ärztebl 2014;111:A-2240-2241

10. Akyildiz BN, Kurtoglu S, Kondolot M and Tunc A. Cyanide poisoning caused by ingestion of apricot seeds. Ann Trop Paediatr 2010;30:39-43

11. Moertel CG, Ames MM, Kovach JS et al. A pharmacologic and toxicological study of amygdalin. JAMA 1981;245:591-594

12. Moertel CG, Fleming TR, Rubin J, et al. A clinical trial of amygdalin (Laetrile) in the treatment of human cancer. N Engl J Med 1982;306:201-206

13. Smith FP, Butler TP, Cohan S and Schein PS. Laetrile toxicity: a report of two cases (letter). JAMA 1977;238:1361

14. Chan TY. A probable case of amygdalin-induced peripheral neuropathy in a vegetarian with vitamin B12 deficiency (letter). Ther Drug Monit 2006;28:140-141

15. Liegner KB, Beck EM and Rosenberg A. Laetrile-induced agranulocytosis. JAMA 1981;246:2841-2842

16. Ma XS, Chen B. [Determination of amygdalin content of Armeniacae Semen and processed products] (Chinese). Liaoning Zhongyi Zazhi 2006;33:355

17. Zhou J, Xie G and Yan X. Encyclopedia of traditional Chinese medicine. Molecular structure, pharmacological activities, natural sources and applications. Vol. I-VI. Heidelberg: Springer, 2011

18. Bai HB, Nan ZC and Song ZR. [Study on different extraction processes of amygdalin in apricot kernel] (Chinese). Zhongguo Xiandai Yingyong Yaoxue 2002;19:476-477

19. Zhang SP, Liu YL and Cao HJ. [The comparison of the extracted rate of amygdalin in Armeniacae Semen by using three extraction methods] (Chinese). Qilu Yao Shi 2010;29:656-657

20. Koo JY, Hwang EY, Cho S et al. Quantitative determination of amygdalin epimers from armeniacae semen by liquid chromatography. J Chromatogr B Analyt Technol Biomed Life Sci 2005;814:69-73

21. Herbert V. Laetrile: the cult of cyanide. Promoting poison for profit. Am J Clin Nutr 1979;32:1121-1158

22. Suchard JR, Wallace KL and Gerkin RD. Acute cyanide toxicity caused by apricot kernel ingestion. Ann Emerg Med 1998;32:742-744

23. Bensky D, Clavey S and Stöger E. Chinese Herbal Medicine. Materia Medica. 3rd ed. Seattle, WA: Eastland Press, 2004

24. Willhite CC. Congenital malformations induced by laetrile. Science 1982;215:1513-1515

25. Li M, Gao X, Li CQ and Qiu DB. [Study on amygdalin in different processed products of Semen Armeniacae amarum] (Chinese). Henan Daxue Xuebao (Yixue Ban) 2006;25:43-44

26. Xu YT, Sun F, Meng J et al. [Analysis on processing mechanism of Persicae Semen] (Chinese). Zhongguo Shiyan Fangji Xue Zazhi 2014;20:1-4