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Axel Wiebrecht
Update Juli 2018

 

 

Eine von Melchart und Ko-autoren 2017 veröffentlichte Studie untersuchte die Häufigkeit hepatotoxischer Reaktionen in der TCM-Klinik Kötzting von 1994 bis 2015. Die Studie enthält eine bisher nicht gekannte Datenqualität für die Abschätzung eines Hepatotoxizitätsrisikos chinesischer Arzneidrogen.  Es ist bedauerlich, dass die differential­diagnostische Abklärung der Leberreaktionen so unvollständig vorgenommen wurde, dass eine bessere Kausalitätsbeurteilung nicht erreicht wurde. Insgesamt sind Leberschädigungen unter Chinesischer Arzneitherapie sehr selten, und ihre Prognose ist, wenn sie rechtzeitig erkannt werden, im Allgemeinen gut. 

Die Studie

Eine jüngst veröffentlichte Studie von Melchart und Koautoren (1) untersuchte die Häufigkeit hepatotoxischer Reaktionen in der TCM-Klinik Kötzting von 1994 bis 2015. Eingeschlossen wurden Patienten, die mit Chinesischer Arzneitherapie behandelt wurden und deren Leberenzym ALT (Alanin-Aminotransferase, GPT) bei Krankenhausaufnahme innerhalb des Normbereichs lag. Kurz vor Entlassung wurde dieser Leberwert kontrolliert. Eine Erhöhung des ALT-Wertes bis zum 5fachen des oberen Normwertes wurde als Anpassungsreaktion der Leber interpretiert, ein darüber liegender Anstieg als Leberschädigung (liver injury). Die Behandlungsdauer war wegen der Dauer des stationären Aufenthalts auf durchschnittlich 19,5 Tage begrenzt. Der Zusammenhang der Leberschädigung mit den chinesischen Arzneien wurde mittels der international üblichen RUCAM- (oder CIOMS-)Skala geprüft. Es wurden 21.740 Patientenfälle ausgewertet. Ein Leberenzymanstieg über den Normbereich hinaus trat in 3,93% der Fälle auf, eine Leberschädigung mit mindestens 5fachem Anstieg der ALT bei 26 Patienten (0,12%). Die Autoren stellten in 9 Fällen bei diesen 26 Patienten (ein Fall mit Reexposition als eigener Fall gezählt) einen „wahrscheinlichen“, in 16 Fällen einen „möglichen“ Zusammenhang mit der chinesischen Arznei fest, in 2 Fällen schossen sie einen Kausalzusammenhang aus. Unter den eingenommenen Arzneidrogen fielen Bupleuri Radix (chai hu) und Scutellariae Radix (huang qin) besonders auf, sie waren in 20 bzw. 21 Fällen beteiligt, in 18 Fällen davon waren sie gemeinsam vertreten. 

Die Autoren gingen bei ihrer Analyse von einer bekannten Hepatotoxizität („associated with potential liver injury as evidenced from the scientific literature“) einer Reihe von weiteren Arzneidrogen aus, die bei den Fällen beteiligt waren, nämlich Bombyx batryticatus (jiang can), Dictamni cortex (bai xian pi), Ephedrae herba (ma huang), Glycyrrhizae radix (gan cao), Polygoni multiflori caulis (shou wu teng), Polygoni multiflori radix (he shou wu), Polygoni cuspidati rhizoma (hu zhang), Psoraleae fructus (bu gu zhi), Puerariae radix (ge gen), Rhei radix et rhizoma (da huang), Sennae folium* (fan xie ye) und Toosendan fructus* (chuan lian zi). 

*Bezeichnung an die gültige pharmazeutische Nomenklatur angepasst.

Kommentar 

Diese Studie liefert eine wertvolle, bisher nicht gekannte Datenbasis für die Beurteilung eines möglichen Hepatotoxizitätsrisikos chinesischer Arzneidrogen, indem sie sich durch folgende Merkmale auszeichnet:

  • das prospektive Design
  • eine hohe Fallzahl mit 21.470 einbezogenen Patienten, die eine valide Abschätzung der Inzidenz für eine relevante Leberschädigung nicht vorbelasteter Patienten im Rahmen einer begrenzten Anwendungsdauer (durchschnittlich 19,5 Tage) erlaubt
  • die vorherige Prüfung auf Identität und Kontaminationen der eingesetzten Drogen
  • den Bezug auf europäische Verhältnisse durch Ausschluss bei uns verbotener oder wegen ihrer Toxizität nicht üblicher Mittel und übermäßig hoher Dosierungen
  • und nicht zuletzt eine weitgehende Transparenz hinsichtlich aller Bestandteile der eingenommenen Rezepturen und der Berechnung der RUCAM-Scores.

Dafür ist den Autoren zu danken. Ein wichtiges Signal ist, dass relevante Leberschädigungen durch Chinesische Arzneitherapie - zumindest unter den Bedingungen der Studie - selten auftreten und sich nach Absetzen der Therapie meist folgenlos zurückbilden. Hinsichtlich der Interpretation der Ergebnisse erscheinen jedoch bedeutsame Klarstellungen und signifikante Fehlerkorrekturen angebracht. 

Fragwürdige Evidenz für die Angabe „bekannte Hepatotoxizität“

Bei der Beurteilung eines Kausalitätszusammenhangs zwischen bestimmten Drogen und den beobachteten Leberschädigungen ist es ein springender Punkt, inwieweit man eine Hepatotoxizität für diese Drogen bereits als belegt betrachtet. Eine bekannte Hepatotoxizität führt zur Aufwertung der Wahrscheinlichkeit eines Kausalzusammenhangs im RUCAM-Score, der in der Studie Anwendung fand, um 1 bis 2 Punkte. Diese Punkte machen oft den Unterschied zwischen einem „möglichen“ und einem „wahrscheinlichen“ Zusammenhang aus bzw. ob die eine oder eine andere Droge als verursachendes Agens in Frage kommt. Wird eine Annahme ohne ausreichende Evidenz getroffen, läuft man Gefahr, Vorverurteilungen zu bestätigen und Fehlannahmen zu perpetuieren. Durch häufige Wiederholungen werden Aussagen jedoch nicht wahrer. Zudem kann sich eine Evidenz bezüglich einer Kausalitätszuweisung nur auf „wahrscheinliche“ oder „sehr wahrscheinliche“ Zusammenhängen stützen, um Fehldeutungen zu vermeiden. „Mögliche“ Zusammenhänge können eine unterstützende Eigenschaft haben oder eine erhöhte Aufmerksamkeit auf bestimmte Drogen lenken, aber keine Evidenz begründen.

Für mehrere Arzneidrogen, die in der Studie mit einem Hepatotoxizitätsverdacht belegt wurden, sind diese Vorbehalte zutreffend. Am augenfälligsten betrifft das Glycyrrhizae radix (gan cao). Diese Droge ist die am häufigsten angewandte Arzneidroge in der Chinesischen Medizin, in vielleicht 50% der Rezepturen ist sie enthalten. Fällt ein Hepatotoxizitätsverdacht auf eine Rezeptur, ist in ca. der Hälfte der Fälle Glycyrrhizae radix (gan cao) automatisch dabei beteiligt. Ähnliches gilt für andere in der Chinesischen Medizin häufig angewandte Drogen, wie Atractylodis macrocephalae rhizoma (bai zhu) oder Angelica sinensis radix (dang gui). In einer früheren kleineren Studie aus der Klinik Kötzting (2) hatten 57% der Patienten mit einer Leberenzymerhöhung Angelica sinensis radix (dang gui) erhalten, aber auch 58% der Patienten ohne Leberenzymerhöhung.

Der Verdacht ist daher nur dann begründet, wenn die Beteiligung einer Arzneidroge bei Leberschädigungen signifikant höher auftritt als ihre durchschnittliche Anwendungshäufigkeit. Zurückhaltung gilt es zu üben, wenn die Verschreibung einer bestimmten Droge in der Praxis häufig mit einem tatsächlich potenziell hepatotoxischen Mittel zusammen vorkommt, weil die Mittel bei bestimmten Erkrankungen gleichermaßen indiziert sind oder sich deren Wirkungen gut ergänzen. Hier kann die häufige Beteiligung einer Droge ein falsches Bild erzeugen.

In der früheren Kötzting-Studie (2 )fielen Glycyrrhizae radix (gan cao) und Atractylodis macrocephalae rhizoma (bai zhu) signifikant häufiger als Rezepturbestandteile bei Leberenzymerhöhungen auf. Die Autoren beschrieben diese Ergebnisse als möglicherweise zufallsbedingt oder durch Störfaktoren bedingt, da diese Drogen bis dahin in der Literatur nicht als hepatotoxisch aufgefallen seien. In der jetzigen Studie wird ein Hepatotoxizitätsverdacht für Glycyrrhizae radix (gancao) ausgesprochen, weil diese Eigenschaft als durch die Literatur belegt gelte.

Glycyrrhizae radix (gan cao)

Ein beteiligter Autor hat für Glycyrrhizae radix (gan cao) wiederholt eine belegte Hepatotoxizität in Anspruch genommen (3-5), was in der RUCAM-Auswertung der vorliegenden Studie die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenhangs mit der Leberreaktion um 2 Punkte erhöhte. Diese Beurteilung geht auf zwei dürftig dokumentierte Fallberichte einer einzigen Publikation aus Hongkong zurück (6). Einer dieser beiden Fallberichte ist für Teschke und Koautoren (3, 5) ausreichend, die Hepatotoxizität für gleich drei Drogen gleichzeitig zu belegen, was mit den Gesetzen der Logik schwerlich vereinbar ist. Als Begründung diente, dass die Hepatotoxizität der genannten Drogen bekannt sei, Referenzen werden jedoch weder von den Fallberichterstattern noch von Teschke et al. benannt. Eine vollständige Wiedergabe der angewandten Rezepturbestandteile fehlt, ebenso wie eine Authentifizierung der Drogen oder Prüfung auf Kontaminanten. 

Das anerkannte und am häufigsten angewandte Testverfahren zur Beurteilung der Kausalität eines Leberschadens durch Arzneimittel ist der RUCAM (oder CIOMS)-Test (7). Die bei Teschke et al. (3) angegebenen Werte für den RUCAM-Test sind fingiert: der Test wurde nicht durchgeführt. Eine Nachberechnung ergab für die genannten Drogen einen RUCAM-Score von 2 bzw. 3 anstatt „6 bis 8“, demnach ist der Zusammenhang „unwahrscheinlich“ bzw. gerade noch „möglich“ (8). Die genannten Fallberichte sind daher als Beleg für eine Hepatotoxizität indiskutabel. Für eine Hepatotoxizität von Glycyrrhizae radix existiert keine Evidenz.

Bombyx batryticatus (jiang can)

Ein weiteres Beispiel ist Bombyx batryticatus (jiang can). Auch hierfür wird von den Autoren ohne Berechtigung eine Hepatotoxizität als bekannt zugrunde gelegt. In vielen größeren Fallzusammenstellungen zu Leberschädigungen fällt diese Droge nicht auf (9-19). In der Publikation von B. Shaw (20) war Bombyx batryticatus (jiang can) gerade bei 2 von 40 Patienten mit einer Leberreaktion, die in einem wahrscheinlichem oder möglichem Zusammenhang mit chinesischer Arzneitherapie stand, unter den Bestandteilen der Rezeptur vertreten, ohne dass dieses Anlass für das Aussprechen eines Hepatotoxizitätsverdachts war.  Das Review von Tu et al. (21) referiert ausführlich die Nebenwirkungenvon Bombyx batryticatus (jiang can), eine Lebertoxizität wird dabei nicht erwähnt. Sucht man unter „Bombyx and (liver injury or hepatotoxicity)“ in Pub Med, findet man 3 Arbeiten, die eine hepatoprotektive Eigenschaft dieser Droge beschreiben. Für eine potenzielle Hepatotoxizität steht allein eine Arbeit von Teschke et al. (22), die sich wiederum auf die untaugliche Hongkonger Fallstudie (6) beruft.

Drogen mit Hinweisen auf eine mögliche Hepatotoxizität

Für eine valide Kausalitätsbeurteilung ist eine klare Evidenz für die Annahme einer „bekannten“ Hepatotoxizität zu fordern. Pflanzliche Drogen, insbesondere der TCM, stellen eine besondere Herausforderungen dar: Die Mittel werden selten als Einzeldrogen angewandt. Bei Multikomponentenpräparationen ist es schwer, einen bestimmten Bestandteil für die Reaktion verantwortlich zu machen. Die Identität der eingesetzten Drogen ist sicher zu stellen, da Verwechslungen oder bewusste Verfälschungen vorkommen. Ferner sind Kontaminationen durch Verunreinigungen durch unerwünschte Stoffe oder durch konventionelle Arzneimittel auszuschließen. Auch die Art der Zubereitung oder Vorbehandlung einer Droge kann eine ausschlaggebende Rolle spielen (9), die häufig gerade zwecks Reduzierung einer Toxizität vorgenommen wird. Daher kann man Untersuchungsergebnisse aus einer anderen Therapierichtung (z.B. Kampo, Ayurveda), die eine andere Präparation verwendet, nicht vorbehaltlos auf die TCM übertragen. 

Die Voraussetzungen für eine Evidenz sind nur für wenige Drogen erfüllt. Bei Polygoni multiflori radix (he shou wu) liegen sie zweifelsfrei vor. Diese Droge wird häufig auch als Einzelmittel eingesetzt, unter den zahlreichen Fallberichten wurden teilweise die Identität überprüft oder Kontaminanten ausgeschlossen. Für Dictamni cortex (bai xian pi) liegen nur wenige Fälle mit einer Anwendung als Einzelmittel vor (23, 24). Bei dieser Droge fällt jedoch auf, dass sie deutlich häufiger an Leberschädigungen beteiligt ist es als ihrer Anwendungshäufigkeit entspricht. 

Weitere Drogen mit unzureichend belegter Evidenz, die in der Studie als potenziell hepatotoxisch behandelt werden, sind Sennae folium (fan xie ye), Polygoni cuspidati rhizoma (hu zhang), Polygoni multiflori caulis (shou wu teng), Puerariae radix (ge gen) und Rhei radix et rhizoma (da huang). Zum Beispiel Puerariae radix (ge gen): Teschke et al. (22) nennen als Referenz dafür eine Veröffentlichung über zwei Fälle von Hepatitis durch den Saft von Pueraria lobata-Wurzel aus Korea (25). Eine Authentifizierung der Zubereitungen wurde nicht dokumentiert. Der Saft kann bezüglich seiner phytochemischen Zusammensetzung nicht mit einem Dekokt aus der getrockneten Droge, wie es im Rahmen der Chinesischen Medizin eingesetzt wird, gleichgesetzt werden. Die durchgeführten RUCAM-Tests mit jeweils einem Score von 10 (25) sind nicht glaubwürdig, da die Differential­diagnostik unvollständig ist bzw. die quo ante-Hepatotoxizität unzureichend belegt ist. 

Der RUCAM-Test vergibt zwei Punkte für eine Hepatotoxizität, wenn diese in der Produktcharakteristik aufgeführt ist, und einen Punkt, wenn es nur in der Literatur Belege dafür gibt (7). Eine Produktcharakteristik existiert für Rohdrogen nicht, TCM-Fertigarzneimittel mit einer einzigen Droge als Wirkstoff existieren nur als Ausnahme. Für die gesicherte, wenn auch sehr seltene Hepatotoxizität von Polygoni multiflori radix (he shou wu) können jedoch sinngemäß 2 Punkte angesetzt werden. Für andere Drogen, die in Publikationen genannt werden, für die aber keine eindeutige Evidenz besteht, ist eine Abstufung mit einem quo ante-Punktwert von „1“ angemessen: So für Ephedrae herba (ma huang) und Toosendan fructus (chuan lian zi), Bupleuri radix (chai hu) und Scutellariae radix (huang qin). Für die übrigen in den Hepatotoxizitätsfällen vorkommenden Arzneidrogen der Studie sind keine stichhaltigen Referenzen dokumentiert, die einen Punkt rechtfertigen würden. 

Fehlerhafte Datenübertragung und RUCAM-Punktzuteilung

Darüber hinaus finden sich in der Kötzting-Studie viele Fehler in der Datenübertragung und in der Zuteilung der RUCAM-Punkte. Eine neue minutiöse Überprüfung der 9 Fälle, in denen der Zusammenhang mit der Chinesischen Medizin „wahrscheinlich“ sein soll, deckte – nicht mitgerechnet die beanstandete Handhabung einer „bekannten“ Hepatotoxizität - 16 Fehler auf, wie falsche Punkteaddition, Diskrepanzen zwischen klinischen Daten und der RUCAM-Berechnung und offensichtlichen Fehlbeurteilungen, was in der Konsequenz zu erheblich abweichenden Ergebnissen führt (Tab. 1).

  • In den Fällen 17 und 24 wurden – unter den getroffenen Annahmen der Studie – die RUCAM-Punkte falsch zum Gesamtscore addiert
  • In den Fällen 19 (1) und 19 (2) fällt die Zeitspanne vom Beginn mit der Medikation bis zum Auftreten der Leberschädigung in das Intervall von 5 bis 90 Tagen, was 2 Punkte ergibt.
  • Rückgang der ALT: Im Fall 17 fiel die ALT innerhalb von 5 Tagen von 279 auf 252 U/l, was keinen Rückgang um ≥50% innerhalb von 8 Tagen darstellt, so dass nur 2 Punkte anfallen. Fall 18: Die Behandlung wurde nach 7 Tagen wegen Auftretens von Durchfall und Kopfschmerzen gestoppt; 14 Tage nach Aufnahme wurde eine erhöhte ALT von 76 U/l bestimmt, 6 Tage später stieg die ALT auf 233 U/l; bei Entlassung (die Dauer des Krankenhausaufenthaltes ist nicht dokumentiert) war die ALT 198, nach 30 + x Tagen war sie 39, wobei x die Dauer des Krankenhausaufenthaltes nach Aussetzen der Medikation ist; dies ist kein Rückgang vom Auftreten der Leberreaktion ab gerechnet um ≥50% innerhalb von 30 Tagen, was zu 0 Punkten führt. Fall 19 (1): Die ALT fiel innerhalb von 3 Tagen von 249 auf 123 U/l, so dass hierfür 3 Punkte angemessen sind. Fall 19 (2): Die ALT fiel innerhalb von 9 Tagen von 295 auf 86 U/l, so dass ein Rückgang um ≥50% innerhalb von 8 Tagen angenommen werden kann, was 3 Punkte ausmacht.
  • Ausschluss anderer Ursachen: In den klinischen Daten von Fall 3 und 12 steht „no hepatitis serology“ bzw. Tests auf Hepatitis A, B und C werden nicht aufgeführt. Dennoch werden in der RUCAM-Berechnung jeweils Punkte für den Ausschluss von Hepatitis A, B und C vergeben. Im Fall 4 fehlen eine Hepatitis C- und E-Serologie sowie ein Bildgebungsverfahren, so dass weniger als 5 alternative Ursachen ausgeschlossen wurden. Im Fall 19 (1) und 19 (2) ist vermerkt „no hepatitis serology“, jedoch im RUCAM dafür 1 Punkt vergeben (dabei ist die Vergabe von 1 Punkt im RUCAM-Test an dieser Stelle gar nicht vorgesehen). In all diesen Fällen wurden weniger als 5 Ursachen ausgeschlossen, was zu -2 Punkten führt. Weitere Unstimmigkeiten sind ohne Einfluss auf den RUCAM-Score: In den Fällen 12 und 17 wurde eine EBV-Infektion ausgeschlossen, aber in der RUCAM-Kalkulation nicht vermerkt, im Fall 17 ein positiver HSV-Test vermerkt (anti-HSV-IgM oder IgG), der offensichtlich nicht durchgeführt wurde.

Tab. 1: RUCAM-Scores und ihre Zusammensetzung lt. Melchart et al. und Korrekturen nach Reevaluation.

In Klammern sind die Spezifikationen lt. Melchart et al., die eine Revision erforderlich machen; fett/in Rot die Korrekturen, die für angemessen befunden wurden. Im Fall 19 (2) wurde der Patient nach 3 Jahren gegenüber mehreren Drogen reexponiert. Die Scores beziehen sich jeweils auf das Dekokt insgesamt; zur Beurteilung der einzelnen Arzneidrogen muss der Wahrscheinlichkeitsscore jeweils um 1 Punkt reduziert werden (außer im Fall 24). >8 Punkte: "sehr wahrscheinlich", 6-8 Punkte: "wahrscheinlich", 3-5 Punkte: "möglich", ≤2 Punkte: unwahrscheinlich, ausgeschlossen oder nicht beurteilbar.

Dieses macht innerhalb von 9 Fällen 16 Fehler bei der Datenübertragung und in der Berechnung der RUCAM-Punkte aus, plus 9 systematische Fehler bzgl. einer „bekannten“ Hepatotoxizität. In der Konsequenz lässt dieses die ganze Studie unzuverlässig erscheinen und erfordert eine Revision (s. Tab. 1). Von den 9 Fällen, die angeblich einen „wahrscheinlichen“ Zusammenhang mit den chinesischen Dekokten aufweisen sollen, bleiben nur 2 übrig: die Fälle 14 und 19 (2), jeweils mit einem RUCAM-Score von 6. Dieser „wahrscheinliche“ Zusammenhang gilt für die gesamte Rezeptur und  kann nicht auf eine einzelne Arzneidroge angewendet werden, weil jeweils mehr als ein Rezepturbestandteil mit Hepatotoxizitätsverdacht vorliegt. Der RUCAM-Test legt fest, dass wenn andere Arzneimittel alternativ als Ursache in Frage kommen, ein Punktabzug von „1“ vorzunehmen ist (7). Wenn man die Kausalität auf die einzelnen Arzneidrogen herunterbrechen will, ist dieser Punkt abzuziehen, außer im Fall 4. Es kann dann für einzelne Arzneidrogen keine „wahrscheinliche“ Kausalität mehr konstatiert werden.

Bupleuri radix (chai hu) und Scutellariae Radix (huang qin)

Eine besondere Betrachtung verdienen Bupleuri radix (chai hu) und Scutellariae Radix (huang qin). In der Kampomedizin gibt es eine Fülle von Hepatotoxizitätsfällen unter Rezepturen, die diese Mittel enthalten. Meist sind beide Mittel gleichzeitig vertreten, z.B. in der Rezeptur sho-saiko-to. In der chinesischen Medizin sind Leberschädigungen unter diesen Mitteln jedoch kaum bekannt (26). Die Drogen der Kampomedizin sind mit denen der Chinesischen Medizin nicht ohne weiteres vergleichbar. Für Bupleuri Radix wird in der Kampomedizin die Spezies Bupleurum falcatum eingesetzt (27), in der Chinesischen Medizin sind die Spezies B. chinense oder B. scorzonerifolium offizinell (28). In Japan werden ganz überwiegend Standardrezepturen in Form von Granulaten eingesetzt. Für deren Extraktion wird auch Alkohol verwendet (27), wodurch die Extrakte in ihrer Zusammensetzung nicht vergleichbar sind mit Dekokten der Chinesischen Medizin. Im Tierversuch war die akute Toxizität von Bupleuri radix bei alkoholischer Extraktion höher als bei wässriger Extraktion (29). 

Innerhalb der Chinesischen Medizin gab es bisher nur vereinzelte Fallberichte mit unzureichenden Kausalitätskriterien (30, 31), in denen Bupleuri radix (chai hu) und Scutellariae Radix (huang qin) - jeweils gemeinsam - vorkamen. Mit der vorliegenden Studie sind zum ersten Mal Fälle von Rezepturen mit wahrscheinlichem Zusammenhang zu einer Leberschädigung unter Beteiligung von Bupleuri radix (chai hu) und/oder Scutellariae Radix (huang qin) dokumentiert, bei denen auf Identität der Drogen und Kontaminationen geprüft wurde. An den 2 Fällen, die nach Neubewertung mit einem „wahrscheinlichen“ Zusammenhang bestehen bleiben, ist Bupleuri radix (chai hu) einmal und Scutellariae Radix (huang qin) zweimal beteiligt. 

Im Fall 14 (ohne Bupleuri radix, chai hu) ist auch der potenziell hepatotoxische Bestandteil Toosendan fructus (chuan lian zi) beteiligt. Eine eindeutige Zuweisung an Scutellariae radix (huang qin) ist daher hier nicht möglich. Im Fall 19 (2) sind als Drogen mit einem quo ante-Verdacht nur Bupleuri radix (chai hu) und Scutellariae Radix (huang qin) vertreten. Besonders schwer wiegt hier die Reexposition des Patienten mit einer Rezeptur (19.2), in der wiederum diese beiden Drogen enthalten waren, aber nur 3 weitere Drogen (Curcumae longae rhizoma (jiang huang), Curcumae radix (yu jin) und Mori ramulus (sang zhi)), die zuvor schon gegeben wurden und für die keinerlei Verdachtsmomente vorliegen. Vielleicht noch bedeutsamer ist die auffällig hohe Anzahl von Fällen mit „wahrscheinlichem“ oder „möglichem“ Zusammenhang insgesamt, in denen Bupleuri radix (chai hu) und Scutellariae Radix (huang qin) beteiligt sind.

Basierend auf dieser neuen Datenqualität muss man die Hepatotoxizität von Bupleuri radix (chai hu)  und Scutellariae radix (huang qin) neu beurteilen. Entweder ist die eine oder die andere Droge oder es sind beide Drogen zusammen als potenziell hepatotoxisch anzusehen. Eine definitive Kausalitätszuweisung zu der einen oder anderen Droge erscheint nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand jedoch nicht ohne weiteres möglich. Bei Einsatz der einen wie der anderen Droge muss man auf die sehr seltene Möglichkeit einer idiosynkratischen (nicht vorhersehbaren) Reaktion gefasst sein. 

Weitere Drogen

Toosendan fructus (chuan lian zi) ist an einem Fall mit „wahrscheinlichem“ Zusammenhang mit der Leberreaktion beteiligt. Bisher galt eine mögliche Hepatotoxizität nur für den Fall der Überdosierung (32).  Die vorliegenden Daten reichen für eine Neubewertung der Hepatotoxizität dieser Doge nicht aus. Dasselbe gilt für Ephedrae herba (ma huang). Diese Droge ist im Fall 3 im Fall 19 (1) beteiligt, in denen auch Bupleuri radix (chai hu) und Scutellariae Radix (huang qin) zur Anwendung kamen, so dass eine eindeutige Zuordnung nicht möglich ist. Die begrenzte Anzahl der insgesamt in der Literatur dokumentierten Hepatotoxizitätsfälle unter Beteiligung von Ephedra herba (ma huang) muss gegenüber der millionenfachen Anwendung dieser Droge vor allemin den Jahren vor 2004 abgewogen werden. Mit den Fällen der vorliegenden Studie erscheint eine Hepatotoxizität jedoch möglich. 

Schlussfolgerung

Die Studie enthält eine bisher nicht gekannte Datenqualität für die Abschätzung eines Hepatotoxizitätsrisikos chinesischer Arzneidrogen. Die in der Publikation vorgenommenen Beurteilungen sind jedoch zum großen Teil nicht aufrecht zu erhalten. Es ist bedauerlich, dass die differential­diagnostische Abklärung der Leberreaktionen so unvollständig vorgenommen wurde, dass eine bessere Kausalitätsbeurteilung nicht erreicht wurde. Aufgrund der vorliegenden Fakten können nur zwei der 26 Leberschädigungen als „wahrscheinlich“ durch die chinesischen Dekokte verursacht gelten. Wenn die Differential­diagnostik sorgfältiger aufgearbeitet worden wäre, könnte mehr Klarheit herrschen und es würden wahrscheinlich einige Fälle mehr eine Assoziation mit der Chinesische Arzneitherapie aufweisen.

Als ausreichend gesichert muss eine mögliche Hepatotoxizität von Bupleuri radix (chai hu) und Scutellariae Radix (huang qin) oder von beiden Drogen zusammen bezeichnet werden, wobei eine weitere Differenzierung zurzeit nicht möglich ist. Für Toosendan fructus (chuan lian zi) und Ephedrae herba (ma huang) erscheint eine definitive Aussage nicht möglich. Gesichert war bisher schon eine mögliche Leberschädigung durch Polygoni multiflori radix (he shou wu), wozu die Studie keine weitere Unterstützung liefert. Hierdurch bedingte Fälle von Hepatotoxizität scheinen in westlichen Ländern weniger vorzukommen als in Asien. 

Insgesamt sind Leberschädigungen unter Chinesischer Arzneitherapie sehr selten, und ihre Prognose ist, wenn sie rechtzeitig erkannt werden, im Allgemeinen gut. Bei einer längeren Anwendungsdauer als von 19,5 Tagen wie in der vorliegenden Studie ist die Inzidenz wahrscheinlich höher anzusetzen. Wenn Leberreaktionen in Zusammenhang mit Chinesischer Arzneitherapie auftreten, ist nicht nur der Klinik Kötzting, sondern auch in jedem anderen Fall anzuraten, eine vollständige differential­diagnostische Abklärung vorzunehmen, um die Kausalität zu bestätigen oder zu falsifizieren, damit die Evidenz bezüglich chinesischer Arzneidrogen mit tatsächlichem Hepatotoxizitätsrisiko zunimmt. Das Centrum für Therapiesicherheit in der Chinesischen Arzneitherapie (CTCA), Berlin ist dafür ein geeigneter Ansprechpartner.

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