Liebe TCM-Freunde,
nach einer längeren Pause, in der sich das CTCA restrukturiert hat, melden wir uns mit einigen aktuellen Themen wieder zurück. Auch unsere Website befindet sich in einem Relaunch und wird bald einen neuen Online-Meldebogen zur Verfügung stellen, auf dem Sie mutmaßliche unerwünschte Arzneimittelreaktionen in Verbindung mit Chinesischer Arzneitherapie noch leichter an uns melden können. Das CTCA wird Ihre Meldung kollegial behandeln, den Zusammenhang der Reaktion mit der chinesischen Arznei prüfen und eine Beurteilung dazu abgeben. Ihre Meldung ist wichtig, damit wir alle daraus lernen und die Chinesische Arzneitherapie noch sicherer machen können. Gleichzeitig wünsche ich, dass Sie durch Ihre umsichtige Therapie so schnell keinen Anlass für eine solche Meldung haben werden, und verbleibe mit besten Grüßen,
Axel Wiebrecht
Hochtoxischer Extrakt seit Monaten unangetastet im Handel
Durch einen Patienten, der bei einer Kollegin aus dem CTCA in Behandlung war, wurden wir darauf aufmerksam, dass ein hochtoxischer Extrakt aus einer chinesischen Arzneipflanze als „Nahrungsergänzungsmittel“ in Deutschland vertrieben wird. Es handelt sich dabei um einen Extrakt aus Tripterygii wilfordii Radix (lei gong teng), das wegen seiner Toxizität als obsolet gilt. Es kann zu Immundepression, Leber- und Nierenschäden, männlicher Infertilität, Amenorrhö und Blutbildschäden führen. In China gibt es ein zugelassenes Arzneimittel aus einem alkoholischen Extrakt der Pflanze, das für die Anwendung strenge Vorgaben macht (Begrenzung der Anwendungsdauer, ärztliche Überwachung von EKG und Laborwerten, Kontraindikation u.a. für die Schwangerschaft wegen Teratogenität im Tierversuch usw.).
Dieser Vollextrakt wurde von zahlreichen deutschen und anderen Internet-Apotheken (Doc Morris usw.) angeboten. Aus unseren Reihen wurde dazu ein Leserbrief zu den Hintergründen an die Zeitschrift für Phytotherapie geschickt[1]und der Fall am 25.06.2021 an die zuständige Aufsichtsbehörde in Baden-Württemberg gemeldet. Es ist kaum zu glauben, dass man heute (Stand 10.03.2022), wenn man den deutschen Namen „Dreiflügelfrucht“ im Internet eingibt, nach wie vor auf zahlreiche Anbieter von diesem „Vollextrakt“ stößt. Anscheinend ist die Behörde damit überfordert, diese akute Gefahr für den Verbraucher zu stoppen. Wir haben in Deutschland eine schizophrene Situation, indem es im Arzneimittelbereich kaum noch möglich ist, direkt aus China oder Taiwan nach allen Regeln geprüfte Granulate einzuführen, während auf der anderen Seite toxische Stoffe, die wir in der Chinesischen Medizin aus Sicherheitsgründen gar nicht mehr anfassen, als Nahrungsmittel ungestört im Handel sind.
Hepatotoxizität von Psoraleae Fructus (bu gu zhi) wahrscheinlich
Bu gu zhi steht schon länger im Blickfeld einer möglichen Hepatotoxizität. In den letzten beiden Jahren haben die Hinweise deutlich zugenommen. Allein aus den Jahren 2020 und 2021 finden sich dazu rund 20 Arbeiten in PubMed und 15 Arbeiten in der chinesischen Datenbank CNKI, und die Hepatotoxizität wird darin als eine feststehende Tatsache behandelt, die nicht mehr hinterfragt wird.
Diese „Sicherheit“ gründet sich dabei vor allem auf Tierversuche, die nicht deckungsgleich auf die klinische Situation übertragen werden können. Es handelt sich nämlich bei der in Frage kommenden Reaktionsweise um eine „idiosynkratische“ Hepatotoxizität. D.h. diese Form der Leberreaktion wird im Regelfall überhaupt nicht beobachtet, sondern nur bei bestimmten Individuen auf der Basis immunologischer Prozesse oder Stoffwechselbesonderheiten. Sie ist im Tierversuch nicht reproduzierbar. Die Reaktionen sind einerseits sehr selten und nicht vorhersehbar, können andererseits aber auch schwer verlaufen. Inzwischen gibt es genügend klinische Fälle mit eingetretenen Leberreaktionen, bei denen bu gu zhi entweder allein oder innerhalb von Rezepturen, in denen keine anderen Bestandteile mit bekannter Lebertoxizität enthalten waren, eingesetzt wurden. Demnächst wird in der „Chinesischen Medizin“ eine Zusammenstellung dieser Fälle erscheinen, von denen man sich ein Bild machen kann.
Der wirksamste Schutz vor größerem Schaden ist es, Patienten, die Arzneidrogen mit möglicher Hepatotoxizitäterhalten, über die Symptome einer Leberschädigung aufzuklären, verbunden mit dem Hinweis, dass sie sich bei entsprechenden Zeichen umgehend mit ihrer/m Therapeutin/en in Verbindung setzen sollen.
Interaktionen auch bei neuen oralen Antikoagulanzien möglich
Interaktionen mit Blutgerinnungshemmern zählen zu den folgenreichsten und häufigsten unter den schwerwiegenden Wechselwirkungen. Das gilt vor allem für die dafür besonders anfälligen Vitamin-K-Antagonisten (Marcumar® u.a.). Interaktionen derselben sind auch mit chinesischen Arzneidrogen berichtet worden (z.B. gou qi zi, Lycii Fructus). Die neuen oralen Antikoagulanzien (NOAKs) gelten als weniger anfällig. Aber auch diese sind nicht vor Interaktionen mit pflanzlichen Mitteln gefeit.
2019 wurden zwei Blutungsfälle veröffentlicht, in denen eine Interaktion von Ingwer mit Dabigatran eine Rolle gespielt haben könnte[2],[3]. Einer der beiden Fälle endete tödlich. Die Fälle sind für sich nicht zwingend beweisend, jedoch theoretisch erklärbar: Ingwer hemmt das P-Glykoprotein, das Dabigatran aus den Zellen ausschleust und somit dessen Wirkung abschwächt. Dadurch kann die Wirkung von Dabigatran verstärkt werden.
Geschmacksstörungen durch Andrographis paniculata
Letztes Jahr veröffentlichte die australische Arzneimittelagentur Therapeutic Goods Administration (TGA) Hinweise, wonach es unter Andrographis paniculata zu Geschmacksstörungen oder Geschmacksverlust kommen kann[4]. Bis Juli 2020 erhielt das TGA 226 Berichte, aufgrund derer Andrographis als die wahrscheinliche Ursache angesehen wurde. Begrenzte Evidenz spricht für den darin enthaltenen Inhaltsstoff Andrographolid.
Es handelte sich dabei um Fälle, die eher bei höher dosierten Extrakten auftraten und solchen, die mit alkoholischen oder methanolischen Lösungsmitteln hergestellt wurden. Andrographolid geht bei wässriger Extraktion, wie den Dekokten, weniger in Lösung. Das chinesische Arzneibuch fordert in der Monografie Andrographis Herba (chuan xin lian) einen Mindestgehalt von 0,8% in der Rohdroge. Nach einer analytischen Arbeit wurde das Maximum an Adrographolid mit 50%igem Alkohol extrahiert (115 mg/g), bei wässriger Extraktion kam man jedoch immer noch auf 25 mg/g[5]. In klinischen Studien wurden Geschmacksstörungen unter einer Dosierung ab 1200mg pro Tag eines alkoholischen Extrakts von Andrographis panniculata beschrieben[6]. Die Geschmacksstörung konnte in den gemeldeten Fällen bis zu mehreren Monaten anhalten. Das TGA formulierte eine Warnung bezüglich Geschmacksstörung oder Geschmacksverlust für die Packungsbeillage von Fertigprodukten.
Ob die beschriebene Nebenwirkung im Rahmen der Chinesischen Medizin für die übliche Anwendung eines Dekokts oder Granulats relevant ist, kann nicht sicher bestimmt, aber auch nicht ausgeschlossen werden. Angesichts der Tatsache, dass Geschmacksstörungen im Rahmen einer Covid-19- oder einer Long-Covid-Erkrankung vorkommen, sollte man bzgl. eines möglichen additiven Effekts durch Andrographis Sensibilität walten lassen.
Melden Sie vermutete Nebenwirkungen unter Chinesischer Arzneitherapie an das CTCA mit dem Meldebogen.
[1] 1. Wiebrecht A, von Hasselbach Y. Leserbrief. Zschr Phytother 2021c;42:213-214
[2] Maadarani O, Bitar Z and Mohsen M. Adding herbal products to direct-acting oral anticoagulants can be fatal. Eur J Case Rep Intern Med 2019;6:001190
[3] Gressenberger P, Rief P, Jud P, et al. Increased bleeding risk in a patient with oral anticoagulant therapy and concomitant herbal intake - a case report. J Int Fed Clin Chem Lab Med 2019;30:95-98
[4] https://www.tga.gov.au/outcomes-low-negligible-risk-changes-permissible-ingredients-2020-2021
[5] Rafi M, Devi AF, Syafitri UD, et al. Classification of Andrographis paniculata extracts by solvent extraction using HPLC fingerprint and chemometric analysis. BMC Research Notes 2020;13(1), 56
[6] u.a. Sandborn WJ, Targan SR, Byers VS, et al. Andrographis paniculata extract (HMPL-004) for active ulcerative colitis. Am J Gastroenterol 2013;108:90-98